Große Reformen bei der Sozialpolitik wie etwa die Grundsicherung scheitern an der Überkomplexität des Sozialstaats. Eine neue Studie, die ZEIT ONLINE exklusiv vorliegt, zeigt auf, wie man das System reformieren könnte. Ein sinnvoller Vorstoß, kommentiert der Ökonom Georg Cremer. Er ist ehemaliger Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes und lehrt als außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg.
Die Materie ist staubtrocken. Aber an ihr wird sich entscheiden, ob es gelingt, den an sich gut ausgebauten Sozialstaat in Deutschland stärker als bisher darauf auszurichten, Notlagen zu vermeiden. Und ob es gelingt, dass die Leistungszusagen des Sozialstaats verlässlich jene erreichen, die am dringendsten auf sie angewiesen sind.
Ein Hemmnis für eine erfolgreichere Sozialpolitik ist ihre Fragmentierung, sind die Schnittstellen und Brüche zwischen den unterschiedlichen Sozialpolitikfeldern. Sie binden umfangreiche Ressourcen und verhindern häufig eine Hilfe wie aus einer Hand. Dazu haben Jörg Bogumil und Philipp Gräfe, Politik- und Verwaltungswissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum, für das Deutsche Institut für interdisziplinäre Sozialpolitikforschung eine aktuelle Expertise vorgelegt. Auch der Nationale Normenkontrollrat, der die Bundesregierung bei Fragen des Bürokratieabbaus berät, hat im Frühjahr in einer Studie Wege aus der Komplexitätsfalle Vorschläge vorgelegt, das Sozialsystem zu vereinfachen. Beide Studien würden es verdienen, eine Reformdebatte auszulösen.
Denn unbestreitbar ist der Sozialstaat in Deutschland hochkomplex. Er teilt Zuständigkeiten nach den sozialen Bedarfslagen auf, die einen Leistungsanspruch auslösen, Arbeitslosigkeit, Armut, Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Behinderung oder Unfall. Somit gibt es eine Vielzahl von Leistungsträgern, deren Zuständigkeiten sich teilweise überschneiden. Zwischen den Leistungen bestehen komplexe Vorrang-Nachrang-Regeln. Manche Leistungen müssen, wie etwa das Kindergeld beim Bürgergeld oder die Rente bei der Hilfe zur Pflege, bei der Berechnung der Leistungshöhe angerechnet werden. Andere Leistungen können parallel bezogen werden, wie der Kinderzuschlag für Niedrigeinkommensbeziehende und das Wohngeld; manche Leistungen schließen sich gegenseitig aus wie Wohngeld und Bürgergeld.
Die rechtliche Verflechtung der Leistungen erzeugt hohe Verwaltungskosten. Es gäbe, schreiben Bogumil und Gräfe, "begründete Hinweise, dass bis zur Hälfte der Arbeitszeit von Leistungssachbearbeitenden in Jobcentern damit verbracht wird, komplexe Anrechnungen zwischen unterschiedlichen Einkünften und Sozialleistungen vorzunehmen sowie die damit einhergehenden Nachweise zu überprüfen, ohne dass dies wesentliche Konsequenzen für die Leistungshöhe hat."
Jobcenter-Mitarbeiter vergeuden die Hälfte der Arbeitszeit mit Bürokratie
Die Formulierung "bis zu" weist immer darauf hin, dass das genaue Ausmaß schwer abzuschätzen ist. Aber dass die Verwaltungskosten bei den existenzsichernden Leistungen sehr hoch sind, ist nicht zu bestreiten. Auch Andrea Nahles, die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, dringt auf eine Vereinfachung des Systems. Ihre Behörde steht vor einer Verrentungswelle und angesichts des Fachkräftemangels ist es völlig ausgeschlossen, alle ausscheidenden Mitarbeitenden zu ersetzen. Der Fachkräftemangel könnte zum Reformtreiber werden.
Es zeichnet Bogumil und Gräfe aus, dass sie nicht die beliebte "Alles Wahnsinn"-Metapher bedienen. Schnittstellen zwischen verschiedenen zuständigen Verwaltungen oder sozialen Trägerorganisationen sind, so betonen sie, in einem ausdifferenzierten föderalen Staat der Normalfall. Auch kann die Autonomie von Organisationen durchaus Vorteile haben, weil das System dadurch flexibler handeln kann, sofern die Koordination der Teilsysteme einigermaßen funktioniert. Ein für alles zuständige Bundessozialamt wäre auch keine Lösung.
Revolutionsaufrufe, die
fordern, das komplexe System umzustürzen, sind völlig zwecklos. Sie wecken nur Erwartungen,
die nicht zu erfüllen sind, und verstärken das lähmende Gefühl fehlender staatlicher
Handlungsfähigkeit. Es kann nur um die Reform des Systems gehen. Es ist
möglich, Sozialleistungen so zu reformieren, dass Schnittstellen reduziert
werden. Man kann stärker Pauschalen nutzen, muss dann allerdings auch bereit
sein, in Kauf zu nehmen, dass die Einzelfallgerechtigkeit der Hilfen etwas
leidet. Zu hoffen ist, dass es in einem weniger komplexen System besser
gelingt, die Leistungszusagen des Sozialstaats verlässlich umzusetzen und die
hohe Nichtinanspruchnahme bei existenzsichernden Leistungen, insbesondere bei
Grundsicherung im Alter, zu reduzieren. Man kann Nachweispflichten reduzieren
oder den Sozialdatenschutz vereinfachen.
Weniger Komplexität bedeutet auch weniger Gerechtigkeit im Einzelfall
Hier ist der Bundesgesetzgeber
gefordert. Jede Reform ist zäh, vornehmlich wenn die Kompetenzverteilung
zwischen Bund, Ländern und Kommunen verändert werden soll oder Finanzlasten
verschoben werden müssen. Kein Reformvorschlag taugt etwas, der einfach der
heutigen Komplexität eine vermeintlich einfache Zukunft entgegensetzt, ohne zu
skizzieren, wie denn der Umbau gestaltet und die dabei unvermeidlichen
Konflikte gelöst oder zumindest eingehegt werden sollen. Wer das System
wirklich vereinfachen will, muss in den Maschinenraum des Sozialstaats
hinuntersteigen.
Auch wäre es falsch,
allein auf den Gesetzgeber zu schielen. Denn, auch das betonen Bogumil und
Gräfe, es gibt vielfältige Handlungsoptionen unterhalb der gesetzlichen Ebene. Die
Kooperation zwischen den Akteuren des Sozialstaats ist schließlich nicht
verboten, im Sozialrecht stehen zahlreiche Kooperationsappelle. Es kommt nicht
allein auf den Rechtsrahmen an, sondern auch und ganz wesentlich darauf, wie
die Akteure lokal agieren, seien es das Sozial- und Jugendamt, die
Schulbehörde, das Gesundheitsamt, das Jobcenter, die Arbeitsagentur und die
Wohlfahrtsverbände, die einen Großteil der sozialen Dienstleistungen mit
staatlicher Finanzierung erbringen. Die Coronapandemie hat gezeigt, dass die
Qualität der Kooperation in dieser Zeit der Kontaktbeschränkungen sehr
unterschiedlich war, trotz des gleichen Rechtsrahmens und ähnlicher
Finanzierungsbedingungen. Alle Erwartungen beim Bund abzuladen, würde daher von der
Verantwortung ablenken, die die Akteure innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens
wahrnehmen können. Im Maschinenraum des Sozialstaats könnten also heute schon die einzelnen Gewerke besser zusammenarbeiten, als sie es teilweise tun – zum Wohle der Bürgerfreundlichkeit.