Warum Politiker jetzt Ansteckmikrofone halten

Ansteckmikrofone gehören eigentlich an die Jacke. Politikerinnen und Politiker allerdings sind längst auf einen bekannten Tiktok-Trend aufgesprungen.
Quelle: @ricardalang, @fdpbt/Tiktok, Freepik, RND-Montage Haensel
Hannover. Bewegtbildproduktionen gibt es seit mehr als 100 Jahren – und in all dieser Zeit konnten sich Film- und Fernsehteams zumindest auf eines einigen: Was auch immer vor der Kamera geschieht, es soll möglichst natürlich aussehen und frei von Störelementen sein. Das gilt auch für das wohl größte, unnatürlichste Störelement überhaupt: das Mikrofon.
Seit jeher verwenden Produktionsstudios im Film viel Energie darauf, Aufnahmegeräte jeder Art aus dem Bild fernzuhalten – auch, wenn sie für eine Produktion meist essenziell sind. Gerät doch mal eine Tonangel in die Kameraperspektive, gilt das in der Filmproduktion als No-Go – und die Aufnahme schlimmstenfalls als unbrauchbar.
Auch bei nicht fiktionalen Fernsehproduktionen wird verschärft darauf geachtet, dass Mikrofone möglichst wenig sichtbar sind. Nachrichtenmoderatoren sind mit unauffälligen Ansteckmikrofonen ausgestattet, bei großen Shows sprechen Moderatorinnen oder Moderatoren in kleine hautfarbene Headsets, die am Kopf befestigt sind. Ausnahmen gibt es nur dann, wenn die Situation es erfordert: Bei Reporterinnen und Reportern in der Liveberichterstattung sind häufig Handmikrofone zu sehen. Und manchmal hat die Sichtbarkeit des Mikrofons auch stilistische Gründe – etwa bei Comedyshows.
Was in all den Jahren allerdings nie vorgekommen ist: Dass Mikrofone ohne erkennbaren Grund absichtlich in die Kamera gehalten und noch dazu völlig falsch benutzt werden. Genau das passiert aber seit geraumer Zeit auf der Plattform Tiktok.
Tiktoker halten Ansteckmikrofone
Auf dem Videonetzwerk, das zum chinesischen Konzern Bytedance gehört, hat sich in den vergangenen Jahren eine ganz eigene Bildsprache entwickelt. Und die beinhaltet mittlerweile ein überaus ungewöhnliches Stilmittel: Junge Menschen sprechen in die Kamera und halten dabei kleine Ansteckmikrofone in den Händen, die eigentlich überhaupt nicht für den Handgebrauch gedacht sind.
Der Trend begann vor einigen Jahren mit den weißen Kabel-Kopfhörern von Apple. Menschen begannen, das eingebaute Plastik-Mikrofon im Kabel nicht einfach, wie vorgesehen, baumeln zu lassen, sondern direkt vor den Mund zu halten. Die Folge: Übersteuerter Sound und laute Artefakte bei Zischlauten. Für die Benutzung direkt am Mund ist das Mikrofon nämlich gar nicht konzipiert.
Das tat dem Trend aber keinen Abbruch. Irgendwann begannen Tiktoker sogenannte Lavalier-Mikrofone, die eigentlich für das Anclippen am Hemd oder an der Jacke gedacht sind, auf Haushaltsgegenstände wie Kochlöffel zu stecken oder Menschen bei Straßenumfragen damit zu befragen. Mittlerweile hat sich das Stilmittel derart etabliert, dass Ansteckmikrofone in der Hand zur festen Bildsprache der Generation Z gehören.
Tiktoker sitzen in ihrer Wohnung, sprechen über ihr Leben, über Popkultur und das Weltgeschehen und halten dabei wie selbstverständlich ein Ansteckmikro in der Hand.
Trend ist in der Politik angekommen
Ein Trend, der inzwischen selbst von Profis adaptiert wird und gar in der politischen Kommunikation angekommen ist. Am Mittwoch etwa postete die frühere Grünen-Chefin Ricarda Lang ein Video, in dem sie zunächst tanzt und dann einen Vorwurf der CSU kontert.
Das Video ist professionell gefilmt, das Bild gut ausgeleuchtet, die Bildsprache stimmt. In der Hand allerdings hält Lang ganz amateurhaft ein Funk-Ansteckmikro der Firma Rode, das zuvor noch an ihrem Kleid haftete.
Aus produktionstechnischer Sicht ergibt das eigentlich keinen Sinn, schlimmer noch: Den Sound des Videos verschlechtert es sogar. Weil auf dem Mikro der sogenannte Poppschutz fehlt und es viel zu nah an den Mund gehalten wird, sind bei bei P-, S- und Zischlauten immer wieder deutliche Störgeräusche zu hören. Auf guten Ton, so scheint es, kommt es aber wohl auch gar nicht an.
Woher kommt der Trend?
Wie genau sich das Stilmittel des Ansteckmikrofons auf der Plattform derart verbreiten konnte, ist nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Eine Marketingagentur nennt auf ihrer Website die Tiktokerin @tinx als eine mögliche Urheberrein. Sie war schon im Jahr 2021 mit einem Ansteckmikrofon in mehreren Videos zu sehen gewesen – etwa in einem 3,6 Millionen Mal geklickten Clip mit dem Titel „Rich Mom Starter Pack“. Etwa zur selben Zeit breitete sich ein Trend auf der Plattform aus, bei dem mit winzig kleinen Handmikrofonen immer wieder Tiere interviewt wurden - womöglich haben sich zu dieser Zeit zwei Trends miteinander vermischt.
Möglich ist auch, dass der Trend gar nicht organisch auf der Plattform Tiktok gewachsen ist, sondern womöglich aus der Youtube-Szene auf die Plattform geschwappt ist. Kommentar- und Essay-Youtuber aus dem englischsprachigen Raum begannen ungefähr zur selben Zeit, immer häufiger in klassische Reportermikrofone zu sprechen oder stationäre Tischmikrofone als Handmikrofone zu entfremden. Manch einer, etwa der Youtuber Pinely, hat dies zu seinem ganz eigenen Stilmittel gemacht.
Der Youtuber Ryan Trahan wiederum ist bereits 2021 in Videos zu sehen, in dem er sein Lavalier-Mikrofon bei einem Außendreh immer wieder abnimmt und direkt hineinspricht oder damit Leute interviewt. Nutzte der Youtuber bis dato eher unsichtbare Tonquellen auf oder hinter der Kamera, ist das kleine Ansteckmikro heute ein festes Stilmittel seines Kanals – mit all seinen Nebenwirkungen. Der Sound in den Trahan-Videos ist häufig übersteuert, immer wieder sind unschöne Nebengeräusche zu hören, weil das Mikro viel zu nah an den Mund gehalten wird. Nichts davon sieht allerdings nach einem Versehen aus – sondern vielmehr nach voller Absicht. Die Videos haben oft mehrere Millionen Aufrufe.

Bei dem Youtuber Ryan Trahan ist das Ansteckmikro in der Hand ein wiederkehrendes Stilelement.
Quelle: Ryan Trahan/Youtube, Screenshot RND
Nachahmen als Erfolgsrezept
Über die Gründe für den Trend gibt es derweil viele Theorien – ganz von ungefähr dürfte er aber nicht kommen. Auf Plattformen wie Tiktok und Youtube hat sich das Nachahmen zu einem festen Konzept entwickelt. Geht ein Tanz, ein Lebensmittel, ein Modetrend viral, springen schnell Hunderte andere Userinnen und User darauf auf. Und hält einmal jemand erfolgreich ein Ansteckmikrofon in den Händen, tun es gleich viele dutzend weitere.
Auch die technischen Entwicklungen könnten eine Rolle spielen. Vor einigen Jahren waren Ansteckmikrofone etwas für Profis. Heute haben Unternehmen wie Rode oder DJI Funk-Ansteckmikros für Smartphones im Sortiment, die man nicht nur an die Jacke heften, sondern auch wunderbar in der Hand halten kann.
Bei den Geräten handelt es sich um kleine viereckige Kästchen, die man heute in nahezu jedem zweiten Video sieht - auch in denen von Ricarda Lang. Fast scheint es so, als hätten die Unternehmen diese Art der Benutzung längst mitgedacht.
Ein Mikrofon als Abgrenzung
Womöglich geht es bei dem Mikrofontrend aber auch um eine Art der Abgrenzung. Der Youtuber Tom Nicholas hat den Hype im vergangenen Jahr in einem einstündigen Essay-Video aufgedröselt. Seine Theorie: Plattformen wie Youtube werden von großen Medienhäusern mit immer professionelleren Videoproduktionen geflutet – und selbst die Produktionen mancher Youtuber gleichen inzwischen Fernsehshows oder Netflix-Dokumentationen. Der Ansteckmikro-Trend ist, so vermutet Nicholas, eine Art Gegenbewegung dazu.
Ganz absichtlich lassen Videomacherinnen und -macher ihre Clips unprofessioneller erscheinen als sie eigentlich müssten – um einen gewissen, amateurhaften Charme zu erzeugen. Schaut man sich etwa die Videos des Youtubers Ryan Trahan an, dann ist dieses Stilelement gleich an mehreren Stellen zu sehen.
In seinen Videos gibt es keine aufwändigen Animationen – stattdessen filmt Trahan einfach eine Photoshopmaske an seinem Computer ab. Für Schrifteinblendungen gibt sich der Youtuber nicht mal bei der Groß- und Kleinschreibung Mühe und nutzt die Standardschriftart aus dem Schnittprogramm. Das Halten des Ansteckmikrofons unterstreicht diesen Stil: Es wirkt locker, etwas schlampig – und damit aber viel nahbarer, als man es von professionellen Produktionen erwarten würde.
Bewegungen wie diese gab es auch früher schon. Der sogenannte Jump-Cut, eine abgehackte Form des Videoschnitts, galt in der Film- und Fernsehproduktion seit jeher als No-Go. Videoblogger auf Youtube allerdings machten die radikalen Schnitte in den 2010er Jahren zu ihrem ganz eigenen Erkennungsmerkmal. Heute sind Jump-Cuts derart etabliert, dass sie selbst in Videos professioneller Medienhäuser zu sehen sind – ganz ähnlich wie das Ansteckmikrofon, das nun selbst die Politik erreicht hat.
Warum Ricarda Lang ein Ansteckmikro hält
Das Socialmedia-Team der Grünen übrigens bestätigt gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), dass das falsche Benutzen der Ansteckmikros auf ihren Socialmedia-Profilen kein Versehen ist – sondern vielmehr Strategie.
„Wir versuchen mit unseren Videos, den Ton und die Bildsprache der Plattform zu treffen“, erklärt die Partei. „Heute gilt es auf der Plattform als veraltet, Ansteckmikrofone auf die herkömmliche Weise zu benutzten – die meisten halten sie einfach in den Händen. Auch klassische Handmikrofone benutzt man auf der Plattform kaum – wir passen uns hier also dem Medium an.“
Allerdings helfe das Halten des Mikrofons auch dabei, die eigene Botschaft besser rüberzubringen: „Das Ansteckmikrofon in der Hand unterstützt die Körpersprache. Außerdem kann man mit dem Mikrofon rhetorisch experimentieren – zum Beispiel, indem man mal näher an das Mikro rangeht und hineinflüstert oder das Gegenteil tut.“
Nicht jeder will den Trend mitmachen
Ricarda Lang ist derweil nicht die einzige Politikerin, die den Trend für sich entdeckt hat. Auf dem Tiktok-Account der FDP etwa erklärt der Bundestagsabgeordnete Konstantin Kuhle, untermalt von überaus lauten Zich-und Pusttönen das Sicherheitspaket – in der Hand hält er ein Ansteckmikrofon von DJI.
Auf dem Tiktok-Account der CDU greifen Mitarbeiterinnen aus dem Socialmedia-Team auf das Stilmittel zurück. Politiker wie Philipp Amthor hingegen tragen das Ansteckmikrofon weiterhin regulär an der Anzugjacke statt in der Hand.
Selbst bei den Grünen gibt es offenbar unterschiedliche Varianten der Mikrofonbenutzung: Wirtschaftsminister Robert Habeck wird – im Gegensatz zu Lang – auf seinem Kanal weiterhin seriös mit Ansteckmikro am Jackett gezeigt. Die auf Tiktok aktive Linken-Politikerin Heidi Reichinnek trägt ihr Rode-Mikrofon ebenfalls lieber an der Jacke.