Durch die Digitalisierung drohen uns Überforderung und Abhängigkeit, sagt die Neurowissenschaftlerin und Bestsellerautorin Maren Urner. Was geschieht da eigentlich mit unserem Gehirn? Und wie können wir digitale Selbstbestimmung erlangen?

Seit rund 30 Jahren surfen wir im Internet, vor 20 Jahren begann der «Siegeszug des Smartphones». Was bedeutet diese Entwicklung für unser Gehirn? Macht uns die Digitalisierung wirklich dümmer, wie Kritiker behaupten?
Diese Technikskepsis ist unberechtigt. Durch die Digitalisierung können wir Aufgaben auslagern und haben dafür mehr Kapazitäten für andere Dinge. Künstliche Intelligenz hilft zum Beispiel bei der Früherkennung und der Diagnose von Krankheiten. Und wenn medizinische Fachkräfte weniger Zeit für Diagnosen aufwenden müssen, können sie diese nutzen, um bessere Therapien zu entwickeln oder sich intensiver um Patientinnen und Patienten zu kümmern. Es droht also keineswegs Verdummung. Tatsächlich droht aber eine Überforderung unseres Gehirns. Die richtige Frage lautet daher: Wie können wir diese Tools so nutzen, dass sie unsere Fähigkeiten und unsere Zufriedenheit steigern? Wie können wir sie so einsetzen, dass wir selbstbestimmter handeln können?

Worin besteht die drohende Überforderung?
Als ich in den 90ern aufwuchs, gab es noch kein Internet, sondern nur das TV mit Standbild in der Nacht. Heute leben wir mit einer potenziellen Dauerbeschallung durch Medieninhalte. Hinzu kommt die Möglichkeit zum Endlos-Scrollen bei Plattformen wie Facebook oder Twitter, deren Timeline nie endet. Und die Apps auf unseren Smartphones sind mittels Pop-up- und Push-Nachrichten, die sich mit einem lauten «Pling!» oder durch Vibrieren ankündigen, so konstruiert, dass sie ständig unsere Aufmerksamkeit einfordern und uns quasi zu Junkies werden lassen.

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Ich habe Studierende, die ihr Smartphone mit ins Bad nehmen und die Dusche unterbrechen, wenn eine Nachricht reinkommt.

Gemäss dem «Digital 2022 Global Overview Report» sind die Menschen weltweit durchschnittlich fast 7 Stunden pro Tag online. Allein in den sozialen Medien verbringen wir rund 2,5 Stunden am Tag. Ist das Smartphone das verführerischste legale Suchtmittel der Geschichte?
Das ist jetzt vielleicht etwas gar zugespitzt. Aber ja, das Smartphone kann zu Abhängigkeit führen. Wir kennen mittlerweile verschiedene neue digitale Suchtkrankheiten. Die Online-Gaming-Sucht ist bereits medizinisch diagnosefähig, die Internet- und die Social-Media-Abhängigkeit werden derzeit noch erforscht. Klar ist: Ähnlich wie bei analogen Abhängigkeiten – wie etwa Kaufsucht oder Esssucht – wird auch bei digitalen Abhängigkeiten unser Belohnungssystem aktiviert und das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet. Der Kick der neuen Information, die Befriedigung, auf dem neuesten Stand zu sein, das gute Gefühl, dass jemand an uns denkt – immer sind es bestimmte Signale von Botenstoffen im Gehirn, die uns ein kleines «legales High» verschaffen. Ich habe Studierende, die ihr Smartphone mit ins Bad nehmen und die Dusche unterbrechen, wenn eine Nachricht reinkommt.

Spielt dabei auch eine Rolle, wie und was für Inhalte wir konsumieren?
Auf der rein verarbeitenden Ebene, die relevant ist dafür, wie viel wir mitbekommen und wie viel wir in unserem Gehirn abspeichern können, bleibt am Handy weniger hängen als am Computer. Das liegt hauptsächlich am kleineren Bildschirm und an der grösseren Ablenkung. Inhaltlich wiederum sind negative News am Handy besonders gefährlich und führen zum Phänomen des sogenannten «Doomscrolling» – einer Wortschöpfung aus «doom» für Untergang und «scrollen», dem Verschieben des Bildschirms.

Warum neigen wir zum «Doomscrolling»?
Unser Gehirn reagiert auf negative Reize schneller, besser und intensiver als auf positive. Aus Sicht der Evolution ist das auch sinnvoll, um angemessen auf potenzielle und reale Gefahren reagieren und überleben zu können. Aber gerade in Zeiten von Covid, Krieg und Klimakrise führt das zum exzessiven bis pathologischen Konsum von negativen Nachrichten – immer auf der Suche nach der nächsten Schreckensmeldung, nach dem nächsten «Kick» sozusagen. Das bedeutet nicht nur enormen Stress, es kann auch dazu führen, dass wir in den Zustand der «erlernten Hilfslosigkeit» geraten: Weil uns immer wieder gezeigt wird, wie schlecht die Welt doch ist, sind wir irgendwann davon überzeugt, dass wir gar nichts dagegen ausrichten können.

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Der Kick der neuen Information, die Befriedigung, auf dem neuesten Stand zu sein, das gute Gefühl, dass jemand an uns denkt – immer sind es bestimmte Signale von Botenstoffen im Gehirn, die uns ein kleines ‹legales High› verschaffen.

Welche Rolle spielt «Fear of missing out» oder kurz FOMO – also die Angst, etwas zu verpassen?
Das ist ein wesentlicher Faktor. Wir sind nun mal soziale Wesen, wir wollen mit unseren Mitmenschen im Kontakt sein und wir suchen Bestätigung. Darauf sind soziale Medien wie WhatsApp, Instagram oder TikTok ausgelegt. Hinzu kommt, dass auf diesen Kanälen mit Vorliebe eine beschönigte Welt gezeigt wird – spektakuläre Urlaubsfotos, die perfekte Wespentaille oder das perfekte Sixpack, die neusten Edelsneaker. Das kann zu Frust führen und zum Gefühl, nicht dazuzugehören. Als Reaktion darauf gibt es neuerdings die Gegenbewegung «Joy of missing out» (JOMO), bei der Menschen ihr Handy bewusst weglegen und es geniessen, etwas zu verpassen.

Bleibt uns also – wie bei Alkoholabhängigen – nur noch die Abstinenz, die Vermeidung von digitalem Konsum, um der Abhängigkeit zu entkommen?
Nein, das ist meines Erachtens keine Lösung. Wenn wir davon ausgehen, dass wir in einer liberalen Demokratie leben möchten, brauchen wir Bürgerinnen und Bürger, die sich informieren. Die Zauberformel heisst digitale Selbstbestimmung. Wir müssen lernen, unser Gehirn besser zu schützen. Es geht ums Filtern und Aussortieren von digitalen Inhalten. Um die Frage, was verdient meine Aufmerksamkeit und wo wird mein Gehirn durch Marketing oder technisch-psychologische Tricks manipuliert.

Wie erlangen wir digitale Selbstbestimmung?
Es gibt kein allgemeingültiges Rezept. Digitale Selbstbestimmung ist anstrengend und ein lebenslanger Prozess. Das Ziel lautet: Hol dir deine Kontrolle zurück! Der erste Schritt dazu ist eine Bestandsaufnahme, ähnlich wie bei einer Ernährungsumstellung. Also zu analysieren, wie und was konsumiere ich wann und wie lange. Der zweite Schritt ist, sich zu fragen, was tut mir gut und was nicht. Was will ich an meiner Mediennutzung ändern, um mehr Konzentrationsphasen hinzubekommen. Im dritten und schwierigsten Schritt geht es darum, neue Gewohnheiten zu etablieren und eine längere Regenerationszeit für das Gehirn einzuhalten.

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Die Zauberformel heisst digitale Selbstbestimmung. Wir müssen lernen, unser Gehirn besser zu schützen. Es geht ums Filtern und Aussortieren von digitalen Inhalten.

An welche Gewohnheiten denken Sie?
Es geht darum, permanente Ablenkungen zu vermeiden, indem man zum Beispiel die Standardeinstellungen des Handys ändert, Klingeltöne stumm stellt, Mitteilungen einschränkt oder ausschaltet. Indem wir fixe Zeiten für die digitale Nutzung festlegen, so wie das viele Eltern für ihre Kinder machen, können wir zwischendurch besser abschalten. Berufliche Mails, die aufs Handy weitergeleitet werden, brauchen in der Signatur Angaben von Bürozeiten, in denen wir erreichbar sind. All diese Massnahmen verfolgen das gleiche Ziel: Indem wir uns Grenzen setzen, übernehmen wir die Kontrolle über unser Verhalten und agieren selbstbestimmt anstatt fremdgesteuert.

Dank künstlicher Intelligenz werden das Medienangebot und die Werbung immer individualisierter und damit noch verführerischer. Ist die digitale Selbstbestimmung aus eigener Kraft überhaupt zu schaffen?
Nein. Digitale Selbstbestimmung ist nicht nur eine Aufgabe des Individuums. Wir haben uns mit der Digitalisierung als Gesellschaft eine Umwelt geschaffen, in der wir alle zu Versuchskaninchen geworden sind. Wir kennen die längerfristigen Folgen für unser Gehirn und unser Zusammenleben noch nicht. Es ist höchste Zeit für eine gesellschaftliche, politische und juristische Digitalisierungsdebatte. Die Frage ist: Was dürfen und sollen die Anbieter von digitalen Inhalten machen und welche Verantwortung haben sie? Eine Idee wäre etwa die Offenlegung von Algorithmen – ähnlich wie auch Lebensmittelhersteller die Inhaltsstoffe auf Verpackungen aufführen müssen. In den USA passiert da schon ziemlich viel. Und auch die EU hat sich kürzlich auf den Digital Services Act und den Digital Markets Act geeinigt, zwei neue Gesetze, die Online-Konsumentinnen und -Konsumenten besser schützen sollen.

Sind Sie zuversichtlich, dass das Smartphone der Menschheit längerfristig mehr Nutzen als Schaden bringt?
Ich bin überzeugt davon. Aber wir müssen als Gesellschaft ehrlicher, offener und auch selbstkritischer in diesen Diskurs gehen. Ich nehme diesbezüglich bereits eine positive Entwicklung wahr. Wir tauschen uns mehr darüber aus, welcher Umgang mit digitalen Geräten uns guttut, und wir hinterfragen stärker, wem ständige Erreichbarkeit tatsächlich etwas bringt.

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Maren Urner

Maren Urner (38) ist Buchautorin und Professorin für Medienpsychologie an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln. 2016 gründete die promovierte Neurowissenschaftlerin Perspective Daily mit, das erste werbefreie Online-Magazin für konstruktiven Journalismus. Ihre Bücher «Schluss mit dem täglichen Weltuntergang» (2019) und «Raus aus der ewigen Dauerkrise» (2021) sind im Droemer-Verlag erschienen und haben es beide auf die SPIEGEL-Bestsellerliste geschafft.

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