Ich bin so alt, wie ich mich fühle: Wie wir das biologische Alter verleugnen

Je älter die Menschen werden, für desto jünger halten sie sich. Werden wir unser Alter bald selber bestimmen können?

Birgit Schmid 6 min
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Jugend heisst der Gott. Mit ein paar Muskeln trotzt man dem Zerfall.

Jugend heisst der Gott. Mit ein paar Muskeln trotzt man dem Zerfall.

Evan Hurd / Corbis / Getty

Auch Heidi Klum kann sie nicht aufhalten, die Jahre. Sie wurde am 1. Juni 50. Das Model macht kein Geheimnis aus seinem Geburtstag – es korrigiert die Zahl einfach nach unten. Dem Online-Magazin «Entertainment Tonight» hat Klum gesagt: Sie werde zwar 50, «innerlich fühle ich mich aber wie 25».

Für eine solche Selbsteinschätzung muss man keine exzentrische Berühmtheit sein. Die meisten Leute in westlichen Gesellschaften fühlen sich heute jünger, als es in ihrem Pass steht. Laut Studien über 80 Prozent. Je älter man wird, desto grösser wird der Abstand zwischen tatsächlichem und subjektivem, das heisst gefühltem Alter.

Die Menschen leben länger, viele bleiben rüstig bis ins hohe Alter, der Umgang mit dem Computer hält geistig fit. Umso obsessiver wehren wir das Älterwerden ab. Man bekämpft den Tod, je näher dieser rückt, und negiert die Zahl, die einen Hinweis auf die durchschnittliche natürliche Lebensspanne geben könnte.

Das geht so weit, dass auch das Alter keine feste Grösse mehr ist, sondern als Teil einer fluiden Identität verstanden wird. Identität gilt heute als «gesellschaftlich konstruiert». Man kann das biologische an das gefühlte Geschlecht anpassen und die Nationalität oder den Namen wechseln. Warum nicht auch das chronologische durch das Alter ersetzen, mit dem man sich viel eher identifiziert?

Der Niederländer Emile Ratelband hat es versucht. Per Gerichtsentscheid wollte er sich 20 Jahre jünger machen. Das war 2018, da war er 69, fühlte sich aber wie 49. Sein Arzt war noch grosszügiger und attestierte ihm den Körper eines 45-Jährigen. Der Blick in den Spiegel ermutigte den Motivationstrainer zu dem Entschluss, für ein alternatives Alter zu kämpfen. Im Spiegel sah er «einen jungen Gott».

Mit 65 pensioniert? Wie absurd

Heidi Klum belässt es bei der Behauptung, sich halb so alt zu fühlen, wie sie ist. Dabei übertrifft sie das durchschnittlich gefühlte Alter mit 50 um 20 Jahre: Normalerweise fühlen sich 50-Jährige «nur» 5 Jahre jünger, als sie sind. Ein 70-Jähriger hält sich dagegen bereits für 20 Jahre jünger. Das zeigen weltweite Forschungen zum gefühlten Alter, wobei die Zahlen leicht variieren können.

Die gefühlte Verjüngung nimmt von Generation zu Generation zu. Genaue Zahlen liefert eine aktuelle Studie der Humboldt-Universität in Berlin, die über den Zeitraum von 24 Jahren mit 15 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführt wurde. So fühlten sich die 1936 Geborenen im Alter von 65 durchschnittlich 7½ Jahre jünger. Bei denjenigen, die 1956 zur Welt kamen, waren es bereits 10½ Jahre. Wohl deshalb kommt für manche die Pensionierung absurd früh.

Nichts deutet darauf hin, dass man sich in Zukunft besser abfinden kann mit der altersbedingten Zäsur und dem Herauskatapultiertwerden aus dem Berufsleben. Denn die nachfolgenden Jahrgänge nehmen sich als immer jünger wahr – jünger im Vergleich mit ihren Eltern, als diese im selben Alter waren.

Einzig Kinder und Jugendliche machen sich älter, weil sie hoffen, dadurch ernster genommen zu werden. Spätestens ab 40 setzt das gegenteilige Bemühen ein. Ab der Lebensmitte passiert das, was Oscar Wilde die Tragödie des Lebens genannt hat, nämlich das Bewusstsein für das Altern des Körpers. Wenn die Jugend vorbei ist, wächst man geistig zwar noch weiter einige Jahrzehnte lang. Doch das scheint schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein Trost gewesen zu sein für den Verlust von Schönheit und glatter Haut. So stellte der Schriftsteller fest: «Es gibt Damen allerhöchster Geburt, die aus freier Wahl jahrelang fünfunddreissig bleiben, nachdem sie vierzig geworden sind.»

Frauen verheimlichen ihr Alter im Lebenslauf oder fälschen es mit der Begründung, dass es sie benachteiligen würde in der Arbeitswelt. Tatsächlich geben Frauen auch häufiger an, sich jünger zu fühlen im Vergleich mit gleichaltrigen Männern. Allerdings erleben Männer genauso eine Stigmatisierung, was auch der Niederländer Ratelband bestätigt hat: Mit seiner juristischen Verjüngung wollte er gegen Altersdiskriminierung vorgehen. Mit 49 erhalte er eher einen Job als mit 69, und beim Online-Dating interessierten sich die Frauen endlich für ihn.

Alter, Erfahrung und Wissen haben heute einen geringeren Stellenwert. Das Schimpfwort «alter weisser Mann» oder der Hashtag «OK Boomer» drücken das aus. Damit diffamieren Jüngere all jene, deren Gesinnung ihnen vorgestrig vorkommt. Ältere Menschen gelten als hinfällig und starrsinnig. So möchte man nicht werden. Der Verjüngungstrend hat also auch mit der Abwertung des Alters zu tun. Altwerden ist in unserer Kultur schambehaftet. Als kassierte man eine Niederlage. Jugend heisst der Gott.

Erinnerungen an sich selbst

Allerdings ist nichts Schlechtes dabei, sich jünger zu fühlen. Denn wer sich jünger fühlt, ist zufriedener. Es geht ihm gesundheitlich besser, und er wird älter als jene, die sich schon mit 45 als Greis in die Zukunft projizieren. Auch das zeigen Studien: Eine positive Einstellung gegenüber dem Altern wirkt lebensverlängernd.

Doch wie fühlt es sich nun an, das Alter mit 18, 39 oder 63? Kann man sich mit 50 wirklich wie 25 fühlen? Mit 25 hat man beste Chancen, schwanger zu werden, wenn man sich ein Kind wünscht. Man steckt mitten im Studium oder hat wenige Jahre Berufserfahrung. Man hat sich schon ein paar Male verliebt und sich erst vor kurzem von den Eltern abgelöst. Gemessen an der durchschnittlichen Lebenserwartung einer Frau in der Schweiz hat eine 25-jährige Frau noch 61 Jahre vor sich, während eine 50-Jährige auf etwas über 35 Jahre hoffen kann. Dieses Bewusstsein hat Einfluss darauf, wie alt man sich fühlt. Es sei denn, man belügt sich selbst.

Sich jung fühlen heisst sich lebendig fühlen. Ein Facelifting ist daher noch keine Garantie für einen auch innerlich verjüngenden Effekt. Erleichtert wird das Gefühl von Jugendlichkeit aber dadurch, dass die Lebensstile der Generationen sich einander angenähert haben. Man sieht es an der Mode. Auch 75-Jährige tragen heute Turnschuhe, Hoodie und Jeans. Die Berufsjugendlichen geben sich alterslos.

Es sind eher Erinnerungen an ein früheres Selbst, die einen sich wieder jung fühlen lassen. Sie sind situationsabhängig und daher flüchtig. An einem Rave fühlt sich der 60-Jährige wie damals mit 30. Wenn der 75-Jährige beim Tennis seinen 45-jährigen Sohn schlägt, verjüngt ihn der Triumph kurzfristig. Die 40-Jährige, die eine Affäre hat, ist wieder 25: Sie begegnet ihrem aufregenden jüngeren Ich.

Es gibt verschiedene Methoden, das Alter auszutricksen, die es früher nicht gab. Fragt sich bloss, wie nachhaltig sie sind. Eine Verjüngung mag Gianna Nannini erlebt haben, als sie mit 54 ein Kind geboren hat, oder Al Pacino, der mit 83 zum vierten Mal Vater wird. Spätestens nach den durchwachten Nächten mit einem schreienden Säugling merken aber auch sie, dass sie nicht mehr 20 sind.

Zum Anti-Aging gehört die Wahl eines jüngeren Partners. Ihre gefühlten 25 Jahre verdankt Heidi Klum wohl auch ihrem Mann, dem Sänger Tom Kaulitz, der 33 ist. Die Schriftstellerin Annie Ernaux beschreibt dieses Gefühl in ihrer Erzählung «Der junge Mann». Darin erinnert sie sich an die Affäre mit einem 30 Jahre jüngeren Studenten. Sie habe mit 55 den Eindruck gehabt, «wieder das skandalöse junge Mädchen von damals zu sein», schreibt sie. Sie sei mit einem 25-Jährigen zusammen, «um nicht ständig das gezeichnete Gesicht eines Mannes in meinem Alter vor mir zu haben, das meines eigenen Älterwerdens». Neben dem Gesicht ihres Liebhabers sei auch ihres jung. Ob sie das am Morgen, wenn sie in den Spiegel blickte, auch fand, bleibt offen.

Jeder ist ein Kind seiner Zeit

Ist man ehrlich, bleibt die Wahrnehmung von sich selbst über die Jahre vermutlich gleich: Man fühlt sich im Innern so, wie man sich immer gefühlt hat. Niemand kann sich vollständig von seinem wahren Alter lösen. Auch Emile Ratelband wäre das nicht gelungen, dessen Antrag das niederländische Gericht ausschlug.

Jahreszahlen markieren den Anfang und das Ende unseres Lebens. Jeder gelebte Tag webt an der Biografie mit. Man ist 25 und ist von den politischen und kulturellen Ereignissen dieser bestimmten Zeit geprägt worden. Der 1968er Bewegung, dem Fall der Mauer, der Corona-Pandemie. Genauso hinterlassen die Erfahrungen, die man in 50 Jahren macht, Spuren. Man wird durch sie zu der Person, die man ist.

Heidi Klum könnte es trösten, dass die Zufriedenheit nun stetig zunehmen wird. In der Lebensmitte sind die Leute am unglücklichsten: Der Beruf fordert, die heranwachsenden Kinder. Man nennt es Midlife-Crisis. Ab 50 geht es wieder aufwärts. Man weiss, wer man ist und was man will. Man muss sich nichts mehr beweisen, und was die anderen denken, ist einem zunehmend egal.

Letzteres zumindest hat Klum kurz vor ihrem 50. Geburtstag gezeigt, als sie sich mit ihrer Tochter Leni für eine Werbekampagne in Unterwäsche fotografieren liess. Die beiden posierten Hand in Hand, der ältere Körper so straff und makellos wie der junge. Was heisst, sich wie 25 fühlen? Auch mit einer 19-Jährigen nimmt es Heidi Klum auf.