Fachleute zeichnen düsteres Bild

„Mehr Verkehr ist kein Naturgesetz“: Was bei den Planungen für neue Straßen und Schienen schiefläuft

Baustelle an der Autobahn A8 mit Stau in beiden Richtungen.

Baustellen, wie diese an der Autobahn A8 sorgen in Deutschland auch 2024 wieder für lange Staus.

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Frankfurt am Main. Da läuft einiges ganz gewaltig in die falsche Richtung. So lässt sich eine aktuelle Studie des österreichischen Umweltbundesamtes (UBA) über die Straßen- und Schienenplanung hierzulande zusammenfassen. Klima- und Artenschutz werden nicht beachtet, und die Kosten laufen massiv aus dem Ruder. Der UBA-Mobilitätsexperte Holger Heinfellner empfiehlt deshalb, die Herangehensweise des Verkehrsministeriums grundlegend umzustellen. Für Umweltverbände ist schon jetzt klar, dass es einen Baustopp für neue Autobahnen und Bundesstraßen geben muss.

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Bundesverkehrswegeplan (BVWP), so heißt die gigantische Sammlung von Projekten, die 2016 für die Zeit bis 2030 erstellt wurde. Eigentlich sollten die Pläne schon nach fünf Jahren – also 2021 – aktualisiert werden. Doch auch wegen Corona wurde das vertagt. Die Fachleute im Haus von Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) haben nun erst damit begonnen, sich über die Pläne für Ausbau und Erhalt der Autobahnen und Bundesstraßen sowie der Wege für die Eisenbahn zu beugen. Doch Pauline Schur vom Naturschutzbund Deutschland (Nabu) fordert: „Die Uhr muss gestoppt werden.“ Es gelte, ganz von vorne anzufangen.

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Die Argumente dafür liefert UBA-Mobilitätsexperte Heinfellner: Im BVWP seien zahlreiche Bestimmungen und Gesetze, die zum Teil schon 2016 gültig waren oder später hinzukamen, überhaupt nicht berücksichtigt. Das gelte zum Beispiel für europäische Regelwerke zum Schutz von Flora und Fauna. Auch beim Klimaschutz habe sich viel getan – vor allem das 2021 verabschiedete Klimaschutzgesetz, das die massive Minderung des CO₂-Ausstoßes vorschreibt. Auch diverse Annahmen, etwa über Lkw-Maut oder CO₂-Preise, seien nicht mehr aktuell.

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Experte: Vorhersagen über Verkehrsentwicklung stimmen nicht

Für noch viel gravierender hält der Experte aus Wien, was er „Predict and Provide“ (Prognostizieren und Liefern) nennt, also die dem BVWP zugrundeliegenden Vorhersagen über die Verkehrsentwicklung, die häufig nicht nur von falschen Voraussetzungen ausgingen und teils auch widersprüchlich seien. Vielmehr würden die Prognosen, die immer von mehr Verkehr ausgehen, dazu führen, dass zusätzliche Straßen gebaut werden, was dann auch tatsächlich das Aufkommen von Fahrzeugen erhöhe. Denn mehr Straßen erzeugen mehr Verkehr. „Das ist also eine selbsterfüllende Prophezeiung und das ist empirisch nachgewiesen“, so Heinfellner.

Er verlangt stattdessen, dem Prinzip „Decide and Provide“ zu folgen: ausgehend von den Anforderungen für Natur- und Klimaschutz. Das Ergebnis eines solchen Herangehens in Österreich: Der Pkw-Verkehr soll dort bis 2030 um 20 Prozent reduziert werden – auf Anraten des dortigen UBA, das eine GmbH ist, die dem Staat gehört. Ähnliche Entscheidungen haben Politikerinnen und Politiker in Irland und Schottland gefasst. Heinfellner: „Mehr Verkehr ist kein Naturgesetz.“ Aber es müsse den Bürgerinnen und Bürgern auch die Angst vor Ausbaustopps für Straßen genommen werden – durch eine bessere Infrastruktur für öffentliche Verkehrsmittel und Fahrräder.

Heinfellner: Massive „Schieflage“ bei Verteilung der Mittel

Hierzulande geht es in eine komplett andere Richtung. Vor knapp einem Jahr zurrte der Ampelkoalitionsausschuss auf Druck der FDP fest, dass 144 Autobahn-Ausbauprojekte aus dem BVWP sogar schneller und mit vereinfachten Genehmigungsverfahren umgesetzt werden sollen.

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Generell attestieren Heinfellner und sein Team dem Bund eine massive „Schieflage“ bei der Verteilung der Mittel. Zwischen 2016 und 2021 seien hierzulande 1132 Kilometer neue Fernstraßen gebaut worden. Hingegen wurden nur 139 zusätzliche Kilometer im Schienennetz neu in Betrieb genommen (zwischen 2017 und 2021). Und die Bundesregierung hat jüngst entschieden, die Mittel für zahlreiche Ausbauvorhaben der Bahn massiv zu strecken, was den Umstieg auf die Schiene verzögert, obwohl der Verkehrssektor den Klimazielen deutlich hinterherhinkt.

Kostenschätzungen für Straße und Schiene völlig aus dem Ruder gelaufen

Ein anderer gravierender Mangel im BVWP sind die Kostenschätzungen, die sowohl für die Straße als auch für die Schiene völlig aus dem Ruder gelaufen sind. Mehrkosten von insgesamt um die 100 Milliarden Euro für die Umsetzung des Wegeplans haben die Fachleute aus Wien hochgerechnet – das hat mit Umplanungen zu tun, aber auch damit, dass im BVWP mit den Preisniveaus von 2014 hantiert wurde.

Für Peter Westenberger, Chef des Verbandes der privaten Güterbahnen, bedeutet dies, dass der Wegeplan in weiten Teilen gar nicht umgesetzt werden kann. Die Politik dürfe sich nicht länger an Illusionen festhalten. Das Verkehrsministerium habe nun die Aufgabe, die Karten auf den Tisch zu legen. Und: „Die Prioritäten müssen neu gesetzt werden.“ Für Westenberger bedeutet das: „Mehr Verkehr auf die Schiene.“

Auch Jens Hilgenberg, Verkehrsexperte der Umweltorganisation BUND, macht sich für einen „naturverträglichen Ausbau“ von Gleistrassen stark. Das müsse einhergehen mit einem Baustopp bei Autobahnen und Bundesstraßen. Angezeigt sei, dass sich der Bund auf den Erhalt von Brücken und Straßen konzentriere. Zumal zusätzliche Asphaltstränge in puncto Klimaschutz kontraproduktiv wirken würden – nicht nur wegen eines steigenden Energieverbrauchs, sondern auch, weil dann sogenannte CO₂-Senken wie Moore zerstört würden.

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