Die virtuelle Umkleidekabine: Kann bald das Smartphone verraten, ob die Hose sitzen wird?

Etwa die Hälfte der online gekauften Kleidung wird retourniert. Das schadet Unternehmen und der Umwelt. Künstliche Intelligenz aus Zürich soll Abhilfe schaffen.

Ruth Fulterer 6 min
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Avatare übertragen die Vielfalt der Körperformen in den digitalen Raum.

Avatare übertragen die Vielfalt der Körperformen in den digitalen Raum.

Meshcapade

Der erste Klick auf die Jeans ist noch zackig und voller Überzeugung. Doch mit jedem Bild aus der Galerie wachsen die Zweifel: Wird die Hose am eigenen Po auch so formschön aussehen? Welche Grösse ist die richtige? Wird sie noch überzeugen, sobald sie aus dem virtuellen Raum per Post in die Realität gelangt ist?

Online gekaufte Kleidung wird in grossen Mengen retourniert. Bei Zalando jedes zweite Stück. Das ist für Kunden mühsam, für Händler teuer, und es schadet der Umwelt; durch den Transport und weil viele Kleidungsstücke nicht wiederverkauft werden.

Wüsste man schon vor dem Bestellen, was passt, würden alle gewinnen. Kann das so schwer sein?

So sieht es aus, wenn die Zalando-App Mass nimmt.

So sieht es aus, wenn die Zalando-App Mass nimmt.

Zalando

Kurz nachdem ich mir diese Frage gestellt habe, stehe ich in eng anliegender Kleidung im Wohnzimmer. Vor mir steht mein Smartphone auf einem Stuhl und erteilt mir Befehle: «Richte deinen Körper gerade aus! Hebe deinen rechten Arm! Die Beine etwas auseinander.»

Als ich endlich alles richtig mache, klickt die Kamera. Dann soll ich mich drehen, für ein Bild im Profil. Auf dem Handy läuft die App von Zalando – sie errechnet aus den zwei Fotos meine Masse, wie Armlänge und Hüftumfang. Diese werden gespeichert, die Fotos gelöscht.

Von Soundcloud und Pornowebsites in die Modewelt

Was ich hier ausprobiere, ist das Werk von Stacia Carr, einer Amerikanerin mit rosablondem Kurzhaarschnitt. Vor acht Jahren ging sie bei Zalando mit sechs Wissenschaftern und ein paar Businessleuten das Thema Grössenberatung an. Heute beschäftigt Zalando achtzig Mitarbeiter damit.

Ein grosser Teil von ihnen arbeitet in Zürich, weil Zalando 2020 das ETH-Spin-off Fision und dessen Körperscan-Technologie gekauft hat. Carr selbst arbeitet meist aus der Firmenzentrale in Berlin.

Stacia Carr.

Stacia Carr.

PD

Dorthin zog sie aus dem Silicon Valley, wo sie als Software-Ingenieurin in der Musik- und Videoindustrie tätig war, unter anderem für Sony, Soundcloud und Kink.com, eine Firma für pornografische Websites. Ihr Fokus sei ein gutes Kundenerlebnis, egal, ob es um Musik, Videos oder eben Kleidung gehe. «Der grosse Unterschied bei Zalando: Es steht ein physisches Produkt im Mittelpunkt.»

Eigentlich nicht nur eins, sondern zwei: das Kleidungsstück und der Körper des Kunden. Und beide sind gar nicht so einfach zu digitalisieren.

Hersteller wissen wenig darüber, ob ihre Kleidung passt

Carr betont, dass auch die Hersteller von Kleidung von einer virtuellen Umkleidekabine profitieren könnten. Es wäre ein Anknüpfen an lange vergangene Zeiten, in denen Kleidung noch auf den Leib geschneidert wurde. «Heute würde man das einen Datenaustausch in Echtzeit nennen», sagt Carr.

Dieser Tage werden Kleider meist in Fabriken hergestellt und in Läden verkauft. Der Hersteller erfährt nicht, wer seine Hosen probiert, wer sie kauft und wer enttäuscht ist. «In der Umkleidekabine, dort wo anprobiert und ausgewählt wird, stecken all die Informationen, die Produzenten brauchen», sagt Carr.

Wer es schafft, die Umkleidekabine in den digitalen Raum zu holen, der kann all diese Informationen sammeln und nutzen: Es ist ein Datenschatz. Doch um an ihn heranzukommen, braucht es Vertrauen.

Nur Stammkunden bekommen Grössenempfehlungen

Die Kunden sind dabei das kleinere Problem für Zalando. Carr sagt, man sei überrascht gewesen, wie bereitwillig Leute sich per App fotografieren und ihre Masse teilen würden. «Das zeigt, wie gross der Leidensdruck durch falsch bestellte Kleidung ist.»

Frustrierte Kunden nehmen einiges in Kauf. Wie ich im Selbstversuch. Die schlechte Nachricht ist allerdings, dass Zalando jetzt zwar weiss, wie breit meine Schultern sind, mir aber doch nicht sagen kann, in welcher Grösse ich einen Mantel bestellen soll.

Das erfahren nur Stammkunden. Von denen besitzt Zalando bereits eine lange Liste gekaufter und retournierter Kleidung, Datenpunkte, die für die Grössenempfehlung genutzt werden können.

Powershopper, welche die Empfehlungsfunktion nutzen, schicken laut Carr bereits 10 Prozent weniger Kleidung zurück. Mithilfe ihrer Daten wollen Carr und ihr Team nun Algorithmen erstellen, die in Zukunft auch Leuten wie mir Vorschläge machen können.

Zalando hat ein Problem, das ein Zürcher Startup nicht hat

Aber warum reichen meine Masse nicht aus, um zu sagen, welche Grösse ich bestellen sollte? Es gibt drei Gründe.

Erstens sind Körpermasse nicht ganz präzise. Ob man einatmet oder ausatmet, kann den Brustumfang schon um ein, zwei Zentimeter verändern. Und wo genau Mass genommen wird, kann sich von Schneider zu Schneider unterscheiden.

Zweitens sind Masse nicht alles. Ob etwas passt, kommt auch auf die Eigenheiten des Stoffs an und darauf, was jemand als eng oder weit empfindet.

Das dritte Problem ist, dass Modemarken ihre Daten nicht gerne hergeben. Carr beschreibt es so: «Im Moment gibt es in der Modeindustrie keine Normen dazu, wie Produktionsdaten geteilt werden.» Man arbeite mit mehreren Marken zusammen, denen man Informationen aus Kundenfeedbacks zu den Produkten bereitstelle. So hätten die Firmen ihrerseits einen Anreiz, detaillierte Produktdaten zu teilen.

Wenn sie das nicht tun, muss Zalando neue Kleidungsstücke selbst vermessen. Es gibt eigene Anprobe-Models, die nicht gutaussehend sein, sondern repräsentative Masse haben müssen. Doch Zalando nimmt jeden Tag Hunderte neue Produkte ins Sortiment. Es ist bereits aufwendig, die alle zu fotografieren. Das Abmessen leistet sich das Unternehmen vor allem für beliebte Stücke, die ausserdem hinsichtlich Grösse und Passform besonders anspruchsvoll sind, beispielsweise Jeans.

Die Kleidermarken sind zurückhaltend im Teilen von Daten, weil sie mit Zalando eine komplexe Beziehung haben. Sie handeln mit der Plattform Einkaufspreise und -bedingungen aus. Zalando hat Macht darüber, wie viele Onlineshopper ein bestimmtes Teil sehen. Zugleich produziert es auch eigene Kleidung und steht damit in Konkurrenz zu den Marken.

Einem Software-Lieferanten gegenüber haben die Kleidermarken weniger Bedenken. So kommt es, dass das Zürcher Zwei-Mann-Startup mit Alter Ego den vielen Ingenieuren bei Zalando mithalten kann: Es hat mehr Daten zur Verfügung.

Vom Schnittbogen zur virtuellen T-Shirt-Anprobe

Fayçal M’hamdi hat das Startup mit Pietro Zullo nach einem Businesskurs an der ETH gegründet. M’hamdi ist ein überschwänglicher Ingenieur aus Marokko und nach eigenen Angaben shoppingsüchtig.

Fayçal M’hamdi.

Fayçal M’hamdi.

PD

Er erklärt, dass Kleidermarken ihre Schnittbögen direkt mit seinem Startup teilen: Sie schicken ihre DXF-Daten zum Teil einfach per Whatsapp. DXF-Daten nutzen Designer, um Aufträge bei Firmen zu platzieren, sie werden direkt an die Maschinen gegeben, die den Stoff zuschneiden. Das Startup Alter Ego nutzt sie, um daraus die Kleidungsstücke in 3-D zu simulieren.

Dazu kommt ein persönlicher Avatar, den Nutzer auf der Basis von Fotos erstellen können oder indem sie ein paar Fragen zu Grösse, Gewicht und Körperform beantworten. Die Technologie dafür kauft das Startup von der Firma Meshcapade zu. Dann wird berechnet, wie die Kleidung auf dem Avatar aussieht. «Grundlage sind die DXF-Daten und die Gesetze der Physik», sagt M’hamdi. Zu grosse Hosen würden deshalb im Moment nach unten fallen. Das sehe etwas seltsam aus. Das Startup arbeite gerade daran, dass stattdessen einfach die Meldung «zu gross» erscheine.

Anhand von Fotos oder Körpermassen werden die Avatare der Firma Meshcapade konfiguriert.

Anhand von Fotos oder Körpermassen werden die Avatare der Firma Meshcapade konfiguriert.

Meshcapade

Bei T-Shirts und einfachen Pullis funktioniert die Technologie bereits. Unter anderem beim Schweizer Label Muntagnard kann man einige T-Shirts virtuell anprobieren. Laut M’hamdi klappt das in 97 Prozent der Fälle akkurat.

Um die Software in ihrem Onlineshop zu integrieren, müssen die Kleidermarken nur ihre Schnittbögen hochladen, der Rest passiert weitgehend automatisiert. Selbst die Verträge, mit denen Alter Ego die vertrauliche Behandlung der Daten garantiert, werden automatisch aufgesetzt. «Bei Luxusmarken ist das etwas aufwendiger, da braucht es mehr Absprachen und Verträge», sagt M’hamdi.

Das T-Shirt in XL ist diesem Avatar offensichtlich zu gross.

Das T-Shirt in XL ist diesem Avatar offensichtlich zu gross.

Muntagnard / Alter Ego

Zürich ist weltweit führend in der Simulation von Kleidung

Zu den ersten Unterstützern von Alter Ego gehört übrigens Louis Portal, Mitgründer des Startups Fision, das Zalando vor wenigen Jahren aufgekauft hat. Grund für den Kauf war damals wohl nicht nur die Technologie, sondern vor allem auch die Expertise der Mitarbeiter. Denn die ist weltweit selten.

Aber nicht in Zürich. Denn hier sitzt eine der besten Forschungsgruppen weltweit dafür: das ETH-Labor für interaktive Geometrie. Sowohl Fision als auch Alter Ego haben von der dortigen Forschung profitiert. Egal, wer die digitale Umkleidekabine zuerst perfektioniert, es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sie aus Zürich stammen wird.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»