Streit um die Kindergrundsicherung
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Streit um die Kindergrundsicherung

„Das Alte stirbt und das Neue kann (noch) nicht zur Welt kommen“

Dieses Zitat des italienischen Philosophen Antonio Gramsci beschreibt treffend die Situation der heutigen Verwaltung in Deutschland. Auch sie befindet sich im Interregnum, was neue Möglichkeiten der Arbeit betrifft. Wir arbeiten nach althergebrachten Strukturen und Grundsätzen, obwohl wir wissen, dass durch Vernetzung und Digitalisierung die Dinge viel einfacher erledigt werden könnten. Die vielen Register, die dutzendmal die gleichen Daten enthalten und dato dutzendmal aktualisiert werden müssen, machen uns das Leben schwer. Das hehre Ziel für rund 5,6 Millionen Kinder und Jugendliche zeitnah und unbürokratisch eine einheitliche Grundsicherung zu schaffen, die es nicht mehr notwendig macht, für spezielle Leistungen eigene Anträge zu stellen, die die Zusammenarbeit von Behörden automatisiert und Zahlungsvorgänge zusammenfasst, scheitert an traditionell analogen Verwaltungsstrukturen. Ohne einen kompletten Umbau der überbordeten Sozialbürokratie mit mehr als 100 verschiedenen Einkommensbegriffen bleibt offenbar nichts anderes übrig, als eine neue Behörde für Kindergrundsicherung zu schaffen, ähnlich wie die Bundesagentur für Arbeit. Nach Aussagen von Familienministerin Lisa Paus wären dafür 5.000 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter notwendig. Legt man einen durchschnittlichen Personalaufwand von 60.000 Euro zu Grunde, kostet dies dem Staat jährlich 300 Millionen Euro. Auch stellt sich die Frage, wo die Personen angesichts des Fachkräftemangels herkommen sollen. Welche Rolle kann bei der Bearbeitung künftig die KI übernehmen? Einfach die Bürokratie von Bürgerinnen und Bürgern zur Verwaltung zu verlagern ist zu kurz gedacht. Ziel muss es sein, generell Bürokratie zu verringern und abzubauen. Aber bitte nicht neue Bürokratie im Staat dafür in einem gigantischen Unterfangen aufbauen. Der schon vorhandene Familienservice sollte sich nicht mit administrativen Aufgaben wie Antragsstellung etc. befassen müssen, sondern sich der Unterstützung der Kinder und Jugendlichen widmen. Hier liegt die eigentliche Aufgabe.

Die Lösung liegt in der antragslosen Verwaltung, wie wir sie zum Beispiel längst in Österreich kennen. Fast alle Nachweise bzw. Daten, die heute mühsam durch die Antragstellenden zusammengetragen und in verschiedenen Verwaltungsverfahren bearbeitet werden, liegen bereits in den Behörden vor. Hier muss der rechtliche Handlungsrahmen geschaffen werden, damit Jobcenter, Kindergeldstellen und Finanzämter die nötigen Daten automatisiert zusammenführen und die betroffenen Kinder und deren Familien proaktiv unterstützen können. 

Wie wäre es mit einer nationalen Offensive bis zum Ende der Legislatur an einer neuen vernetzten Aufgaben- und Behördenstruktur zu arbeiten, die radikal die Zersplitterung und Parzellierung aufhebt und ohne Tausende von neuen Verwaltungskräften auskommt. 

Wenn wir es ernst meinen mit dem Einsatz von Prozessautomatisierung und Künstlicher Intelligenz, müssen wir jetzt damit beginnen. Auf einem toten Pferd zu reiten und überbürokratisierte Strukturen weiter am Leben zu erhalten, ist der falsche Weg. Das Fiasko bei der noch immer nicht erfolgten Auszahlung des Klimageldes aufgrund der fehlenden Verknüpfung zwischen Steuernummer und IBAN der Bürgerinnen und Bürger sollte Mahnung genug sein. Eine neue Mammutbehörde dürfen wir Deutschland nicht zulassen. 

Franz-Reinhard Habbel

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