Internationaler Vergleich

Kaum ein Land ist gegenüber Ukraine-Flüchtlingen so großzügig wie Deutschland

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Von Nikolaus DollRessort Politik
Veröffentlicht am 24.05.2024Lesedauer: 5 Minuten
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Quelle: Michael Matthey/picture alliance/dpa; Montage: Infografik WELT

Die Bundesrepublik hat mehr als eine Million Ukrainer aufgenommen. Laut den Wissenschaftlichen Diensten des Bundestags gibt es nur ein Land in Europa, in dem die Flüchtlinge noch mehr finanzielle Unterstützung bekommen. Mit Blick auf die geringe Erwerbsquote warnt die Union vor dem Bürgergeld als „Falle“.

Die im europäischen Vergleich hohen Sozialleistungen in Deutschland für Flüchtlinge aus der Ukraine haben eine Debatte um die Unterstützung für die Vertriebenen entfacht. „Wir fordern eine europaweite Harmonisierung von Integrations- und Sozialleistungen, die sich an den Lebens- und Sozialstandards der jeweiligen Mitgliedstaaten orientieren sollten“, sagte der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, WELT AM SONNTAG.

„Das hohe Niveau der Sozialleistungen hierzulande macht Deutschland als Ziel für Flüchtlinge besonders attraktiv und fördert eine ungleichmäßige Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU“, erklärte Sager. Nach der Europawahl müsse die EU „dieses Vorhaben dringlich angehen“.

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Gerd Landsberg, Ehrengeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, sagte, es müsse „kritisch hinterfragt werden, ob die Sonderstellung der ukrainischen Flüchtlinge, automatisch Bürgergeld-Bezieher zu werden, dauerhaft bestehen bleiben sollte“. Ukrainer seien damit besser gestellt als Kriegsflüchtlinge aus anderen Konfliktregionen. „Die Situation einzelner Personen, die aus der Ukraine fließen mussten, ist letztlich nicht anders als die von Flüchtlingen aus Iran oder anderen Ländern.“

Deutschland hat 1,152 Millionen Ukrainer aufgenommen – in absoluten Zahlen mehr als jedes andere Land in Europa. In Polen sind es rund 956.000. Italien hat rund 172.500 Ukrainer aufgenommen, Frankreich etwa 68.800. In Deutschland erhalten ukrainische Flüchtlinge direkt nach Ankunft Bürgergeld, andere Schutzsuchende bekommen dieses erst nach ihrer Anerkennung im Asylverfahren, was oft neun Monate dauert. Ein alleinstehender Bürgergeld-Bezieher erhält seit diesem Jahr monatlich 563 Euro. Hinzu kommen unter anderem Zuschüsse für Miete und Heizung, die vom jeweiligen Wohnort abhängen und ergo stark variieren. Das Bundesarbeitsministerium geht für Alleinstehende von einem durchschnittlichen Regelbedarf von insgesamt 954 Euro im Monat aus, den der Staat deckt.

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Eine Analyse der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags, die im Auftrag der CDU-Abgeordneten sowie Vorsitzenden der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), Gitta Connemann, erstellt wurde und WELT AM SONNTAG vorliegt, kommt zu dem Ergebnis: Ukrainische Flüchtlinge erhalten in Deutschland deutlich höhere Sozialleistungen erhalten als in nahezu allen anderen Staaten Europas.

Am besten vergleichbar sind die Zahlen für Alleinstehende: So bekommen diese in Schweden lediglich ein Tagesgeld, das auf einen Monat gerechnet 180 Euro beträgt. Dazu gibt es unter Bedingungen 30 Euro Wohngeld und ein Sondergeld. In Polen erhalten Ukrainer grundsätzlich keine dauerhaften Geldleistungen; gezahlt wird dort eine Starthilfe von umgerechnet 70 Euro, für Familien und besonders Bedürftige gibt es Einzelprogramme. Österreich gewährt alleinstehenden Ukrainern bis zu 260 Euro im Monat, die Mietkosten werden mit maximal 165 Euro bezuschusst.

Die Niederlande zahlen Einzelpersonen pro Monat Beihilfen und Zulagen von 384 Euro. In Italien sind es 300 Euro, in Frankreich 426 Euro. In Finnland wird eine „Aufnahmebeihilfe“ von monatlich 349 Euro gezahlt. Die sogenannte Grundsozialhilfe von 587 Euro pro Monat kann gewährt werden, wenn ein Flüchtling dauerhaft im Land lebt.

Höhere Leistungen als in Deutschland erhalten Ukrainer indes in Belgien mit 1288,46 Euro pro Monat für Alleinstehende. In Norwegen sind es umgerechnet 670 Euro, hinzu kommen allerdings Wohnungsbeihilfen und eine „Einführungsbeihilfe“ von rund 17.300 Euro im Jahr, wenn der Antragsteller vollzeitbeschäftigt ist. Damit soll die Arbeitsaufnahme gefördert werden. Die Regierung in Oslo will die Hilfen allerdings deutlich zurückfahren.

Laut den Wissenschaftlichen Diensten sind wegen der unterschiedlichen Struktur der Sozialsysteme in den europäischen Staaten unmittelbare Vergleiche nur eingeschränkt möglich. Zudem ist die Kaufkraft je nach Land unterschiedlich. Nahezu alle Länder bieten Ukrainern staatliche Unterkünfte und einen Zugang zum Gesundheitssystem an. Nicht erfasst wurden Länder wie Tschechien, Bulgarien oder Rumänien, in denen die Kriegsflüchtlinge nur sehr geringe finanzielle Unterstützung erhalten.

In kaum einem anderen Land ist die Quote der Ukrainer, die arbeiten, so gering wie in Deutschland. Hierzulande ist knapp ein Fünftel beschäftigt. In Dänemark sind es mehr als drei Viertel, in Polen und Tschechien zwei Drittel, in den Niederlanden, Schweden und Großbritannien über die Hälfte. Nur in Belgien, dem Land mit den höchsten Sozialleistungen für ukrainische Flüchtlinge, arbeiten diese noch seltener (17 Prozent).

SPD sieht keinen Reformbedarf

Deutschland sei für Ukrainer seit Kriegsbeginn Zielland Nummer eins, aber in kaum einem anderen Zufluchtsstaat würde ein so geringer Anteil der Flüchtlinge arbeiten wie hierzulande, kritisiert Connemann. „Für einen Großteil wird das Bürgergeld zur Falle. Der Arbeitsanreiz ist bei uns zu niedrig. Der groß angekündigte ‚Job-Turbo‘ zündet nicht“, sagte die CDU-Politikerin mit Blick auf die von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) angekündigte Beschäftigungsoffensive. Ziel müsse sein, „endlich mehr Geflüchtete in Arbeit zu bringen. Schließlich sind bei uns über 1,7 Millionen Stellen unbesetzt.“

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Einerseits gelten die deutschen Verfahren zur Arbeitsaufnahme in Deutschland im europäischen Vergleich als aufwendig und kompliziert. Andererseits sehen unter anderem Unionspolitiker einen Zusammenhang zwischen hohen Sozialleistungen für Ukrainer und der geringen Beschäftigungsquote. CDU- und CSU-Politiker hatten gefordert, ukrainische Flüchtlinge vom Bürgergeld-Bezug auszunehmen und nach den Regeln für Asylbewerber zu versorgen. Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat sich dieser Forderung nicht angeschlossen, aber jüngst am Rande der Steuerschätzung ohne weiteren Kommentar erklärt: Allein das Bürgergeld für Ukrainer würde im Bundesetat „nächstes Jahr mit 5,5 bis sechs Milliarden Euro zu Buche“ schlagen.

Die Liberalen fordern nun wie die Union, die Beschäftigtenquote unter den schutzsuchenden Ukrainern zu erhöhen. „Es muss unsere höchste Priorität sein, Flüchtlinge aus der Ukraine an den deutschen Arbeitsmarkt zu bringen. Denn jede zusätzliche Arbeitskraft hilft dabei, unser Wachstum anzukurbeln und die Wirtschaftswende voranzubringen. Zudem ist ein Job entscheidend für gelungene Integration“, sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag, Stephan Thomae. „Wir sollten daher Anreize setzen, damit ukrainische Flüchtlinge nicht in sozialen Systemen festhängen, sondern hier schnell und unbürokratisch arbeiten können.“

In der SPD sieht man dagegen keinen Reformbedarf. Arbeitsminister Heils „Job-Turbo“ wirke, sagt der arbeitsmarktpolitische Sprecher Martin Rosemann. „Aktuell sehen wir, dass die Zahl der erwerbstätigen ukrainischen Geflüchteten kontinuierlich ansteigt. Innerhalb von drei Monaten – von November 2023 bis Februar 2024 – hat sich außerdem die Zahl der bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Stellen, die durch Zugewanderte besetzt werden können, fast verdoppelt.“ Rosemann spricht sich auch gegen eine Vereinheitlichung der Sozialleistungen für ukrainische Flüchtlinge in Europa aus. Dazu würden sich die Arbeitsmarktstrukturen wie die Lebenshaltungskosten zu sehr unterscheiden.


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