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Datenökonomie: Wo bitte ist die Strategie?

Von Christoph Herr
Lesezeit: 6 Min.
Verliert sich die Politik in nicht zu Ende gedachten Rohrkrepierern, oder gibt es Hoffnung? Von den Chancen und Konzepten der europäischen Datenökonomie. Ein Gastbeitrag

In diesen Tagen entsteht häufig der Eindruck von nicht zu Ende gedachten politischen Konzepten:

Erstes Beispiel: Man will Fachkräfte nach Deutschland holen, möglichst viele, denn die Fachkräftelücke liegt aktuell bei über 533.000. Gleichzeitig fehlen in Deutschland aber 1,4 Millionen günstige Appartements unter 45 qm für Singlehaushalte. Wo sollen die Fachkräfte denn eigentlich wohnen?

Zweites Beispiel: Für das Windkraftausbauziel bis 2024 fehlen noch 842 Windräder, die sehr schnell aufgebaut werden müssten. Gleichzeitig sind in Deutschland 16.000 Brücken sanierungsbedürftig, sodass sie von Schwertransporten, wie sie für den Aufbau von Windrädern typisch sind, nicht benutzt werden können. Dadurch kommen viele Windräder nur über große Umwege ans Ziel. Von den vorherigen aufwendigen und langsamen Genehmigungsverfahren ganz zu schweigen. Nicht gerade Rückenwind für die Windindustrie und die ambitionierte Energiewende. Sprechen die verantwortlichen Ministerien nicht miteinander? Oder fehlt es dem Kanzler an strategischem Überblick? Es entsteht der Eindruck eines inkompatiblen Flickenteppichs und von gut gedachten, aber schlecht gemachten Einzelaktivitäten.

Da ist man froh über Konzepte, die in sich schlüssig sind und sogar positive volkswirtschaftliche Effekte bringen sollen. Die Rede ist von der Datenökonomie, die auf einem großen, strategisch durchdachten Bild fußt und nicht aus Berlin, sondern aus Brüssel kommt. Nicht weniger als 270 Milliarden Euro zusätzliches Bruttoinlandsprodukt erwartet die EU in den nächsten fünf Jahren auf diesem Weg. Um die Datenökonomie mit Leben zu füllen, hat sie den EU Data Act auf den Weg gebracht, der in wenigen Monaten europaweit gelten wird.

Für ein Land wie Deutschland, das wenig Bodenschätze hat und dem die Fachkräfte ausgehen, ist die Datenökonomie ein Hoffnungsschimmer. Denn sie stellt einen Rahmen zur Verfügung, in dem Daten zu handelbaren Wirtschaftsgütern werden, mit denen Umsatz generiert werden kann, den es bisher so nicht gab. Dafür braucht es vor allem Software, kluge Tech-Köpfe und innovative Geschäftsmodelle. Ein ganz wichtiger und europaweit anerkannter Baustein der Datenökonomie ist der sogenannte Datenraum.

Dieser basiert auf einer Erfindung der Fraunhofer Gesellschaft und erzeugt mindestens so viel Phantasie wie seinerzeit das Audioformat MP3, das ebenfalls von der Fraunhofer Gesellschaft stammte und das die Musikindustrie nachhaltig verändert hat. Der Datenraum ist heute Bestandteil sowohl der Daten- und Informatikstrategie der Bundesregierung wie auch der Europäischen Union und weiterer europäischer Länder. Sein großer Vorteil ist, dass ein Datenaustausch nach bestimmten, klar definierten Regeln funktioniert und dem Bereitsteller von Daten eine gewisse Souveränität über diese Daten belässt.

Damit das Pflänzchen Datenökonomie gedeihen kann, hat die Europäische Union zunächst neun Datenraumprojekte skizziert, darunter Datenräume für die Industrie, für Energie, Mobilität und Gesundheit. In Deutschland wurden auf dieser Basis Projekte wie Catena-X oder Manufacturing-X gestartet, die die Datenraumtechnologie im Kontext der Zusammenarbeit über die komplette Wertschöpfung beim Automobilbau oder in der Ausrüsterindustrie verwendet. Das bedeutet, dass nicht nur einzelne Maschinen an einem Produktionsstandort ihre Daten über einen Datenraum zur Verfügung stellen, sondern dass dies standortübergreifend geschieht.

Der EU Data Act verfolgt das Ziel, dass möglichst viele Daten für die Datenökonomie zur Verfügung stehen. Daher wird er die Pflicht etablieren, dass vernetzungsfähige Maschinen die Daten, die bei ihrer Nutzung entstehen, für die Datenökonomie zur Verfügung stellen müssen. Besonders hervorzuheben ist, dass der Data Act die Nutzer von Maschinen ins Zentrum der Datenökonomie stellt. Diese erhalten das alleinige Recht, solche Daten zu vermarkten. Das bedeutet konkret: Nicht die Windkraftanlagenhersteller verfügen über Windkraftdaten, sondern die Besitzer oder Betreiber der Windkraftanlagen – und diese können sie zum Beispiel an Start-ups oder andere innovative Tech-Unternehmen verkaufen.

Allerdings gilt diese Weitergabeoption nicht uneingeschränkt. Denn die Europäische Union hat mit dem Digital Markets Act eine Bremse eingebaut und den Begriff des Gatekeepers eingeführt. Das sind Unternehmen, die über eine besonders starke wirtschaftliche Position verfügen und große Nutzerzahlen haben. Diese Gatekeeper werden keine Daten von den Maschinenbesitzern bekommen, sie sind explizit ausgenommen. Als Gatekeeper wurde bisher Alphabet, Amazon, Apple, Byte Dance, Meta, Microsoft und Samsung klassifiziert. An dieser Stelle wird deutlich: Die EU möchte, dass die Datenökonomie vor allem europäischen Unternehmen zugutekommt, und gleichzeitig will sie den Einfluss der großen und mächtigen Tech-Unternehmen aus den USA und Asien beschränken. Denn auch deren Geschäftsmodelle basieren darauf, Daten zu sammeln, sie zu verarbeiten und darauf Produkte und Services aufzubauen, die hohe Umsätze generieren.

Glasfaserleitungen laufen in einem Rechenzentrum in einem Server zusammen.
Glasfaserleitungen laufen in einem Rechenzentrum in einem Server zusammen.Berthold Steinhilber/laif

Der Boden ist also bereitet: Es entsteht ein neuer Markt mit strategischem Weitblick, in dem europäische Unternehmen die Poleposition einnehmen können. Bleibt die große Frage: Wie bekommt man als Unternehmen einen Teil des Kuchens, sprich der oben genannten 270 Milliarden Euro, ab? Die Antwort ist nicht ganz einfach, weil ein solcher Markt bisher nicht existierte und er zunächst wie ein weißes Blatt Papier vor uns liegt. Aber auch hier haben die Schöpfer des Data Acts schon ein wenig vorgedacht. So spielen in dessen Kontext Web3-Technologien wie Smart Contracts und Blockchains eine erkennbare Rolle. Solche Technologien können zum Beispiel das Konzept, dass Maschinen sich in Zukunft zu Kunden weiterentwickeln, die eigene Kaufentscheidungen treffen können, beflügeln. Nach Ansicht der Gartner Group stellen „Maschinen als Kunden“ eine der größten neuen Wachstumschancen des Jahrzehnts dar. Es gebe heute mehr Maschinen, nämlich mehr als 9,7 Milliarden installierte IoT-Geräte, mit dem Potential, als Käufer aufzutreten, als Menschen auf der Welt.

Überall mögliche Hintertüren: Ein Google-Datenzentrum in der amerikanischen Stadt The Dalles im Bundesstaat Oregon
Überall mögliche Hintertüren: Ein Google-Datenzentrum in der amerikanischen Stadt The Dalles im Bundesstaat Oregondpa

Aber das ist nur eine Idee von unendlich vielen. Die Datenökonomie ist etwas für Unternehmer, für Visionäre, für mutige Investoren. Es wird sich zeigen, welches europäische Land die besten Ideen generiert. In Frankreich gibt es bereits einen Marktplatz für Daten aus der Landwirtschaft, der auf der Datenraumtechnologie aufsetzt. Die Idee des Datenmarktplatzes ist im Übrigen ein bestechendes Geschäftsmodell mit großem Potential. Denn ein einzelner Besitzer von einigen wenigen Maschinen, wie zum Beispiel eine Tischlerei, wird kaum in der Lage sein oder ein Interesse daran haben, die ihm laut Data Act zustehenden Maschinendaten selbst zu vermarkten. Aber ein Marktplatz, der die Daten vieler Tischler einsammelt, aggregiert, aufbereitet und sie über eine Plattform zur Verfügung stellt, ist eine ganz andere Nummer. Diese Daten werden für eine ganze Reihe potentieller Kunden interessant sein, angefangen bei den Herstellern der Holzbearbeitungsmaschinen selbst.

Gibt es denn keine Kritikpunkte an der Datenökonomie oder am EU Data Act? Doch, natürlich – so fürchten zum Beispiel Hersteller von Maschinen, dass bei der Pflicht zur Weitergabe von Daten auf Geschäftsgeheimnisse geschlossen werden könnte. Solche berechtigten Bedenken gilt es zu lösen, aber auch hier sind bereits kluge Köpfe am Werk. Erste technische Lösungen sind bereits auf dem Markt und müssen geprüft und verifiziert werden.

Eine Frage bleibt am Ende: Wie soll eine Datenökonomie florieren, wenn auch in der IT die Fachkräfte fehlen? Schließlich ist die Datenökonomie vor allem eines: Software. An dieser Stelle zeigt sich, dass die IT-Branche einen besonderen Vorteil aufweist: Letztlich ist es egal, wo ein Softwareentwickler, Data-Scientist oder Cloud-Architekt örtlich sitzt. Der Bedarf in Deutschland und Europa könnte also zumindest zum Teil in anderen Ländern gedeckt werden. Und dies auch in Ländern, die man nicht unbedingt als Erstes auf dem Radar hat. Wenn wir aber einmal nach Afrika schauen, gibt es dort rund 1,4 Milliarden Menschen, von denen mehr als 50 Prozent 20 Jahre und jünger sind. In Ghana, der IT-Hochburg Afrikas, gibt es viele Absolventen von Informatiklehrstühlen, die vor Ort keinen Job finden. Kein Wunder also, dass es bereits spezialisierte Dienstleister gibt, die das Matchen des Bedarfs in Europa mit den Möglichkeiten in Afrika zu ihrem Kerngeschäft gemacht haben.

Die Datenökonomie braucht keine Brücken für den Transport und keine Wohnungen in Deutschland. Sie nutzt ein Gut, das in großer Fülle vorhanden ist. Und sie hat dank einer durchdachten Strategie das Potential, den Wohlstand in Deutschland zu bewahren, selbst wenn die Zahl der Arbeitnehmer immer weiter zurückgeht. Es ist an den Unternehmern, Start-ups und Investoren, diese Chance zu nutzen und Deutschland zu einem Vorreiter in der Datenökonomie zu machen. Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen.

Christoph Herr
Christoph Herr ist Experte für Plattformökonomie bei einem der größten europäischen Industrieverbände, leitet dort die Arbeitskreise der CDOs und CIOs, und arbeitet in Projekten der Datenökonomie, wie Manufacturing-X, mit. Vorher war er in den Digitalisierungs- und Innovationsbereichen verschiedener DAX- und MDAX-Unternehmen tätig.
Bild: Privat