Ein Stockbett steht zwischen Zäunen in einer Notunterkunft für Asylsuchende in der Messe Offenburg. Das Regierungspräsidium Freiburg hat an der Messe Offenburg erneut eine Notunterkunft für Asylsuchende eingerichtet.

"Schaffen wir das noch?"

Die Krise und der Bürgermeister

Stand
AUTOR/IN
Henning Otte
SWR-Reporter und -Redakteur Henning Otte, SWR Landespolitik

Steht Deutschland wegen der vielen Krisen und hausgemachten Probleme tatsächlich am Scheideweg? Oder wird zu viel gejammert? Wie Praktiker vor Ort die Lage sehen und wie sie kommunizieren.

Ein dunkler Saal. Nur das Podium ist erleuchtet. Am Rednerpult steht Steffen Jäger mit bitterernster Miene. Das Gesicht des Präsidenten des Gemeindetags wird hinter ihm riesengroß an die Leinwand geworfen. Die Schweißperlen rinnen ihm die Wange herunter. Er ist hochkonzentriert auf seine Botschaft: So geht es nicht weiter. Deutschland stehe am Scheideweg, die Demokratie sei in Gefahr, wenn die Politik nicht schnell gegensteuere. Man kann wohl sagen: Hier in der Messe in Villingen-Schwenningen herrscht eine Art deutsche Weltuntergangsstimmung.

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Die Abrechnung: Unterfinanziert, überhastet, unverantwortlich

Dabei ist die Kundgebung zum 50. Geburtstag des Gemeindetags in Baden-Württemberg am vergangenen Donnerstag eigentlich eine Art Klassentreffen. Hunderte Bürgermeister und auch ein paar Bürgermeisterinnen sind extra aus allen Teilen des Landes angereist. Vielen spricht der Präsident mit seiner Kaskade an Kritikpunkten aus dem Herzen. Flüchtlingskrise: ungebremst. Energiewende: überhastet. Schulpolitik: unterfinanziert. Verwaltung: unterbesetzt. Regierung: unverantwortlich. Sein Fazit: "Die Grenzen des Machbaren sind vielerorts bereits überschritten." Und: "Das Gelingen dieses Staates ist zunehmend gefährdet." Großer Applaus.

Kretschmann spielt die Kritik herunter

Die Generalabrechnung mit Bundes- und Landesregierung dauert ungefähr 45 Minuten. Bei Jäger ist der Frust darüber zu spüren, dass die Warnungen der Kommunen vor einer Überlastung bei der Aufnahme von Flüchtlingen lange in Berlin und Stuttgart nicht wirklich ernst genommen wurden. "Auch die Strategie ‚bloß nicht laut zu sagen, was aktuell nicht gut läuft‘ ist gescheitert." Die Probleme müssten beim Namen genannt werden. Er lasse sich nicht einreden, dass er damit "rechtspopulistische Narrative" bediene.

Dann kommt der Mann ans Redepult, der die Landesregierung führt und ist erstmal sprachlos. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagt, er wisse nicht so recht, was er jetzt für eine Rede halten solle. Der Grüne bemüht sich, die bittere Kritik als etwas darzustellen, was alle Jahre wieder komme. Bei der Zusammenkunft der Mitglieder müsse der Gemeindetags-Chef auch "auf’s Blech" hauen dürfen. In Wirklichkeit sei man in allen schwierigen Fragen in engen Gesprächen.

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Also alles nur Folklore - wie beim politischen Aschermittwoch? In Kretschmanns Umfeld gibt es auch besorgte Stimmen. Der Ton sei deutlich rauer geworden, heißt es. Das liege auch an der Ampel in Berlin. Kretschmanns Hoffnung, in einer erneuerten Koalition mit der CDU auch die größtenteils noch immer CDU-dominierten Kommunen besser einbinden zu können, habe sich nicht wirklich erfüllt. Nur ein Beispiel: Es sei besorgniserregend, wie sehr die Rathauschefs Front gegen den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in den Grundschulen machten, heißt es. Als Jäger in seiner Rede zu diesem Punkt kommt, gibt es Pfiffe und Buhrufe für die Bundes- und die Landesregierung. Für Kretschmann wird nur einmal kräftig geklatscht: Als er mit Jäger in den Saal kommt.

Ohne Kommunen ist kein Staat zu machen

Doch der Regierungschef weiß: Ohne die Kommunen ist kein Staat zu machen. Es sich mit ihnen zu verderben, wäre keine gute Idee. Städte und Gemeinden müssen die Politik umsetzen, die in Berlin und Stuttgart erdacht wird. Ohne Kommunen gibt es nicht mehr Wohnraum, keine Energiewende und schon gar keine Willkommenskultur. Und so belässt es Kretschmann in seiner Rede bei einem Seitenhieb auf Jäger: "Bei aller Kritik, die sie geäußert haben, wir müssen auch Zuversicht ausstrahlen."

Zwei Bürgermeister und die Debatte: Schaffen wir das noch?

Wie sehen das die Praktiker vor Ort? Wir haben mit zwei sehr unterschiedlichen Bürgermeistern gesprochen - nur einer von ihnen war bei der Kundgebung in Villingen-Schwenningen. Und das hat seine Gründe.

Zuversicht ist das Thema von Mike Münzing (SPD). Der 55 Jahre alte Bürgermeister von Münsingen (Landkreis Reutlingen) auf der Schwäbischen Alb ist nicht zum Treffen des Gemeindetags gefahren. Wenn man dem SPD-Politiker eine Weile zuhört, weiß man auch warum: Münzing sieht einen Trend, mit Ängsten Politik zu machen. Er denkt dabei an die AfD, aber auch CDU-Chef Friedrich Merz. "Wir müssen aufpassen, dass wir als Kommunalpolitiker nicht ins gleiche Horn blasen und sagen: Wir schaffen es nicht. Ich bin der festen Überzeugung, gemeinsam kriegen wir es hin."

Münzing hat sein Amt seit 26 Jahre inne. Er will die aktuellen Krisen und Probleme nicht verharmlosen, vor allem die vielen gleichzeitigen Herausforderungen seien für die Rathauschefs ein großer Berg. "Ja, manchmal steht es uns bis zum Hals und auch darüber hinweg. Ich möchte aber nicht jammern, sondern wahrgenommen werden." Bundes- und Landesregierung hörten einfach zu wenig auf die Praktiker vor Ort. "Wir sind nicht Erfüllungsgehilfen, sondern wir sind die, die Zielsetzungen letztendlich allein umsetzen können - zusammen mit unserer Bevölkerung."

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SPD-Bürgermeister stört die Krisen-Rhetorik 

Was Münzing stört, sind Begriffe wie "Überforderung" und "Belastungsgrenze". Er sagt: "Eine Überforderung, wann beginnt die? Wenn man dann wirklich die Segel streicht? So weit sind wir nicht. Wir können die Aufgaben noch erledigen unter großer Anstrengung." Das gilt auch für die Unterbringung der Flüchtlinge. Wohnraum zu organisieren sei nun mal der Job der Bürgermeister. Die derzeitige Rhetorik in der Migrationspolitik findet er stark übertrieben. "All jene, die momentan immer wieder formulieren, dass wir überfordert sind, frage ich mich, ob sie sich auch Gedanken machen, wie jene Menschen, die sich im Kriegsgebiet befinden in der Ukraine, im Gaza-Streifen oder in Israel, wie die mit solchen Aussagen zurechtkommen sollen, wenn wir mit einer Aufgabe, die eigentlich zu unserem Tagesgeschäft gehört, schon Überforderung anmelden."

In Münsingen und den Teilorten mit seinen etwa 15.000 Einwohnerinnen und Einwohnern seien die Flüchtlingsunterkünfte dezentral verteilt. Es habe keine Proteste gegeben, stattdessen viel ehrenamtliches Engagement. Sein Credo heißt: "Wir müssen die Menschen zu Beteiligten machen und nicht zu Betroffenen." Münzing sagt: "Ich nehme bei meinem Tafelladen-Team oder bei unserem Team aus der Kleiderstube oder bei der Diakonie und bei vielen Einrichtungen nicht wahr, dass dort von einer Überforderung gesprochen wird, sondern von einer Belastung, ja, von einem großen Engagement und weiter von einer spürbaren Bereitschaft, sich weiter zu engagieren."

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CDU-Bürgermeister aus dem Ostalbkreis bewertet die Lage anders

Was für einen Blick hat Joy Asongazoh Alemazung (CDU) auf die Lage? Der 48-Jährige ist seit Ende 2021 Bürgermeister in Heubach (Ostalbkreis) auf der Ostalb mit seinen etwa 10.000 Menschen. Er kam 1997 als Student aus Kamerun nach Deutschland. Alemazung ist bei der CDU und war der erste deutsche Bürgermeister mit afrikanischen Wurzeln. Er war in Villingen-Schwenningen (Schwarzwald-Baar-Kreis) bei der Versammlung des Gemeindetags. Am Rande des Treffens haben wir ihn interviewt:

Frage: Halten Sie die Warnung vor einem Scheitern des Staates für übertrieben?

Alemazung: "Es ist nicht übertrieben, vor allem, wenn man perspektivisch kein Licht am Ende des Tunnels sieht. Deswegen muss man schreien. Die Situation ist sehr, sehr ernst. Ich glaube, jeder Bürgermeister, jede Bürgermeisterin möchte seine Arbeit in Ruhe machen können, mit Bürgerinnen und Bürgern, die zufrieden sind. In der Lage, in der wir jetzt sind, ist das nicht möglich."

Frage: Wer sollte den Schrei hören?

Alemazung: "Die Bundesregierung vor allem sollte den Schrei hören und sollte uns unterstützen."

Frage: Ist das nicht ein gefährliches Spiel, das den rechten Rand stärken könnte?

Alemazung: "Es ist ein gefährliches Spiel, wenn man nichts tut und es explodiert unten. Wir wollen nicht, dass es dazu kommt, denn wir sind kurz davor. In Heubach war die Bereitschaft, Menschen aufzunehmen, so stark. Aber ich stellte schnell fest, Wollen und Können sind zwei unterschiedliche Dinge. Die Fähigkeit verschwindet, weil die Kapazität ist nicht unendlich. Wenn ich bei mir zu Hause Hunger habe und das Essen, was wir haben, an Fremde gegeben wird, werde ich unglücklich sein.

Wir können Geflüchtete nur gut unterstützen, wenn die Kommune stabil steht. Aber wenn wir selber nicht stabil sind, dann wird das nicht funktionieren. Wenn ich mehrere Bürgerinnen und Bürgern haben, die nicht mal Unterkunft haben, und wir für Geflüchtete Unterkunft zur Verfügung stellen, dann sind sie unzufrieden und zurecht.

Frage: Was meinen Sie: Schaffen wir das noch, oder schaffen wir es nicht mehr?

Alemazung: "Wir schreien, damit wir das schaffen können."

Bürgermeister sind auch Psychologen und Motivatoren

Der SPD-Bürgermeister in Münsingen sieht das kritisch und sagt: "Jammern bringt uns nicht weiter." Münzing appelliert an seine Kolleginnen und Kollegen: "Wir müssen insgesamt zusammenstehen, dass auch unsere Bevölkerung nicht den Eindruck gewinnt: ‚Ja, selbst Berufspolitikerinnen und Berufspolitiker zweifeln an dieser Demokratie‘. Also ich persönlich zweifle nicht an der Demokratie, sondern an Bürokratismus und an der fehlenden Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen von vielen. Und wenn ich in solche Aufgabe gewählt bin, dann habe ich auch die Verantwortung zu übernehmen."

Es werde zu schnell vergessen, dass noch vor kurzem große Krisen wie die Corona-Pandemie oder der Gasmangel bewältigt worden seien. Und ja, es fehle das Verständnis dafür, wie sehr sich die Lebensqualität in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten verbessert habe. Hinzu komme Bequemlichkeit. "Einerseits ist es natürlich auch eine Angst, aus gewissen Komfortzone herausgehen zu müssen und möglicherweise die reine Veränderung, die uns verängstigt." Politik müsse dem mit guter Kommunikation und Angeboten zur Beteiligung begegnen. Als Bürgermeister sei er eben auch Psychologe und Motivator, der immer das Positive sehe. "Ich bin nicht problemorientiert, sondern lösungsorientiert."

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