Im Dickicht der Bürokratie: Warum Digitalisierung im Sozialrecht nur radikal wirken kann
Deutschland ist ein Sozialstaat. Im Jahr 2023 werden nach Berechnungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales rund 1.249 Milliarden Euro für Sozialleistungen ausgegeben. Dieses gewaltige Sozialbudget wird von Tausenden von Trägern verwaltet. Charakteristisch für Deutschland ist die Trägervielfalt: Bund, Länder, Kommunen, Sozialversicherungsträger und Wohlfahrtsverbände teilen sich die Verantwortung. Die Kommuen und freie Träger sind oftmals Landesbestimmungen ausgeliefert die verhindern, dass digital first umgesetzt werden kann. Die Rechtsprechung hat die Ansprüche auf Sozialleistungen weiter ausdifferenziert und damit die Komplexität massiv erhöht - mit der Folge eines immer höheren Verwaltungsaufwandes. Hinzu kommen immer detallierte Vorgaben der Politik, oftmals ohne den Vollzug in den Kommunen mit zu betrachten.
Vernetzung der Akteure? Fehlanzeige. Digitalisierung spielt bisher nur eine untergeordnete Rolle. Zwar gibt es zahlreiche und wirkungsvolle Fachverfahren und erste KI-gestützte Ansätze, etwa bei der Bearbeitung von Wohngeldverfahren. Die Beratung durch Chatbots steckt jedoch noch in den Kinderschuhen. Plattformen wie kooperationsgebote-sozialrecht.de, sozialplattform.de oder Leistungslotse.de decken meist nur Teilbereiche des Sozialrechts ab. Selbst die Jobcenter arbeiten mit einer eigenen App der Bundesagentur für Arbeit.
Die Zahl der Einkommensbegriffe ist Legion. Bereits 2021 warnte der Normenkontrollrat in einem über 125 Seiten starken Bericht vor der ausufernden Komplexität. Trotz der Schaffung von Sozialgesetzbüchern bleibt das Sozialrecht eine Black Box, die ohne Expertenwissen kaum zu durchschauen ist. Bürgerinnen und Bürger sehen sich oft gezwungen, mit mehreren Behörden zu verhandeln, um ihre Ansprüche durchzusetzen - wenn sie diese überhaupt kennen. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für interdisziplinäre Sozialpolitikforschung nehmen bei der Grundsicherung im Alter 60 Prozent und beim Bildungs- und Teilhabepaket 43 bis 85 Prozent der Anspruchsberechtigten ihre Leistungen nicht in Anspruch.
Die Bilanz der Digitalisierung ist ernüchternd: Sie hat es bisher nicht geschafft, Schneisen in den Bürokratiedschungel zu schlagen. Prozesse werden digitalisiert, ohne die Strukturen grundlegend in Frage zu stellen. Dabei wäre es entscheidend, Verwaltungsleistungen nicht isoliert zu digitalisieren, sondern im Zusammenhang zu denken: Welche Leistungen können gebündelt, welche Verfahren vereinfacht, welche Anträge überflüssig gemacht werden?
Dies scheitert jedoch an unterschiedlichen Zuständigkeiten, gegenläufigen Finanzströmen und geteilten Zuständigkeiten. So führen das Nebeneinander von Bürgergeld (Kommunen) und Wohngeld (Bund) sowie Vorrang- und Nachrangregelungen zu einem unüberschaubaren Geflecht von Ausschlüssen. Das Ergebnis ist eine organisierte Verantwortungslosigkeit, in der sich niemand mehr zuständig fühlt.
Die Digitalisierung muss daher mit einer tiefgreifenden Staatsmodernisierung verbunden werden. Es reicht nicht, digitale Oberflächen zu schaffen. Zuständigkeiten müssen neu geordnet, Einzelfallgerechtigkeit zugunsten praktikabler Pauschalierungen überwunden, Nachweispflichten radikal reduziert werden. Der Versuch, die vorhandene Komplexität zu digitalisieren, ist ein Irrweg. Ziel muss es sein, diese Komplexität zu reduzieren - drastisch und sichtbar.
Andere Länder zeigen, dass es auch anders geht: In Estland etwa ermöglicht eine einheitliche digitale Identität über eine zentrale Plattform den Zugang zu nahezu allen staatlichen Dienstleistungen. Auch Dänemark setzt auf eine konsequente Vereinfachung der Bürokratie vor der Digitalisierung. Deutschland hingegen versucht, überkommene Strukturen lediglich digital zu konservieren.
Prof. Dr. Constanze Janda, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, wies kürzlich beim NEGZ-Brown Bag-Meeting auf zentrale Hindernisse hin: Neben der Trägervielfalt sind dies vor allem Datenschutzbedenken und die Gefahr, vulnerable Gruppen wie ältere oder behinderte Menschen zu benachteiligen. Auch die Ziele des Koalitionsvertrages - „Prozesse digitalisieren“ und „Daten besser nutzen“ - greifen zu kurz, wenn nicht gleichzeitig die strukturelle Komplexität angegangen wird.
Hier gibt es ermutigende Ansätze: Beim Grundrentenzuschlag im Alter wird bereits auf Anträge verzichtet; Anspruch und Leistung werden durch einen automatisierten Datenaustausch zwischen Rentenversicherung und Finanzbehörden ermittelt.
Fazit: Die Digitalisierung im Sozialrecht kann nur gelingen, wenn sie Teil einer umfassenden politischen Reform wird. Es bedarf einer konzertierten Aktion: Bündelung von Leistungen, radikale Transparenz, drastische Vereinfachung der Verfahren u.a. durch Antragslosigkeit. Nicht die Optimierung einzelner Prozesse ist gefragt, sondern die strategische Neuausrichtung des gesamten Systems. Digitalisierung ist Politik. Und sie erfordert den Mut, Bürokratie zu reduzieren. (Franz-Reinhard Habbel)